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Die Spinnstube in Ostfriesland
August Sach (um 1880)

Das Wettspinnen
Wenn draußen alles hart gefroren ist, schneidende Winde den Schutz des Hauses suchen lassen oder milde Witterung die ganze rüstige Bevölkerung zum Schlittenlaufen aufs Eis ruft, dann findet man gegen Abend in den Geestgegenden Ostfrieslands die ganze Familie samt den Dienstboten um das hochlodernde Torffeuer versammelt, die Ereignisse des heutigen Tages, die Arbeit des nächsten zu besprechen. Einige der Dienstboten putzen das Gemüse und schälen die Kartoffeln für den folgenden Mittag. Das Gespräch wendet sich den Verhältnissen des Dorfes zu, und manche Familie wird der Gegenstand erbarmungsloser Kritik. Laut und immer lauter wird das Gespräch, bis auf einmal eine Stille eintritt, sofort von noch heftigerem Wortgefecht verbannt. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft erzählt etwas fast Unglaubliches: Im Wirtshause sei schon seit mehreren Stunden von einem Mädchen aus dem benachbarten Dorfe eine Spindel aufgehängt, aber bis jetzt habe sich noch keine Spinnerin gefunden, die durch Abnahme derselben der Herausforderin den Krieg zu erklären den Mut gehabt hätte; es scheine, als ob das Dorf seinen alten Ruhm, die geschicktesten Spinnerinnen der ganzen Umgebung zu haben, eingebüßt habe und sich zum Gespött der Nachbardörfer machen wolle.
Die Tochter des Hauses hat sich während dessen leise davon gemacht und tritt bald mit hochgeschwungener Spindel an den Herd; sie hat die fremde Spindel abgenommen, um den Wettkampf aufzunehmen. Die Kunde von dem bevorstehenden Gefecht verbreitet sich bald durch das ganze Dorf; die Freude ist allgemein; von allen Seiten wird Partei genommen, die Geschicklichkeit und Fertigkeit der Spinnerinnen mit grellen Farben ausgemalt. Für und wider sammelt man Geld, das als Gewinn für die siegende Partei dienen und schließlich in Bier umgewandelt werden soll. Nachdem Ort, Tag und Stunde bekannt gemacht, sieht man mit Spannung der Entscheidung entgegen, und bis dahin drehen sich fast alle Gespräche nur um das neue Thema: Wer wird siegen?
Römer und Albaner haben einst dem Ausgang des Zweikampfes zwischen den Horatiern und Kuriatiern nicht erwartungsvoller entgegengesehen, als unsere Dörfler zu der festgesetzten Zeit das Ende des Wettspinnens erwarteten. Ranke und Wüpke, die beiden Heldinnen des Tages, betreten, mit ihren Spinnrädern bewaffnet und begleitet von ihrem "Holder" und von der schaulustigen Jugend, den Kampfplatz, wo sie von den bereits zahlreich Versammelten mit lautem Hurra empfangen werden. Sie nehmen Platz; ein "Holder" setzt sich mit vorgestreckten Händen zur rechten Seite jeder Spinnerin, um Anfangen und Aufhören zu kommandieren und, wenn der einen ein Unglück passiert, der anderen in die Speichen des Rades zu fallen. Sie sind die Sekundanten bei solchem unblutigen Duell.
Nachdem der Flachs lose in den Rocken gelegt, der Hebel eingeschmiert, die Dauer des Kampfes verabredet ist, die Kämpferinnen sich klopfenden Herzens zum Angriff bereit erklärt haben, ertönt das Kommando: eins! - zwei! - drei! Da entfalten die Heldinnen ihre ganze Gewandtheit, ihre ganze Kunst; jede Muskel ist in Spannung, und es ist dem Auge unmöglich, die schnellen Bewegungen der Füße, Arme und Finger zu folgen. Ringsum stockt Stimme und Atem; man könnte eine Stecknadel fallen hören. Plötzlich erschallt ein lautes Halt! Aus dem Munde der einen Spinnerin, denn der Faden zerriß ihr, und augenblicklich fällt der "Holder" in das Rad der Gegenpartei, um es zum stehen zu bringen. Diese kurze Pause, die sich während des Kampfes mehrfach wiederholt, wird von den Umstehenden wacker ausgebeutet. Lob und Tadel erschallt in reichem Maße, und jede Partei bringt ihrer Vertreterin einen tüchtigen "Schluck", sie zu kräftigen und zu stärken. Dann ist endlich der Fehler beseitigt, aufs neue erschallt das Kommandowort, aufs neue schnurren die Räder, während alles ringsum lautlos zusieht. Wenn die bestimmte Zeit verstrichen ist, macht ein Kommando des "Holders" dem Kampfe ein Ende.
Jeder ist voller Erwartung, auf wessen Seite der Sieg sein wird. Die hochgeröteten Kämpferinnen erholen sich von ihrer Anstrengung, scherzen mit ihrer Umgebung über ihr stattgefundenes Unglück und geben sich den Anschein, als ob sie sich um das Resultat wenig kümmerten; indes schielen sie doch oft in banger Erwartung seitwärts nach jenen unruhigen Männern und Frauen, die beschäftigt sind, das gesponnene Garn abzuhaspeln und die Fäden zu zählen.
Die Arbeit ist vollendet und der Sieg wird verkündet. Wüpke ist die Siegerin, denn der von ihr gesponnene Faden ist der längste. Die triumphierende Dorfschöne wird von ihrer Partei beglückwünscht und jubelnd heimgebracht, denn die alte Ehre des Dorfes ist aufs neue gerettet, und ein vergnügter Abend, an dem der gewonnene Einsatz verzehrt werden wird, ist gewiß.
Am nächsten Sonntag findet dann bei Sang und Klang das "Spinnelbier" statt; mag der Tanzsaal die Küche, der Tanzboden von Stein sein, mögen der Violine des Dorfes einige Saiten fehlen, dem Vergnügen tut's keinen Eintrag; Wüpke hat dem Dorfe die Ehre bewahrt.