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Die Spinnerin im Monde
(aus: Märkische Sagen, Hrg. Hans Sturm, Leipzig 1923)

In einem Dorf bei Salzwedel lebte eine Witwe mit ihrer Tochter.

Marie war die beste Spinnerin in der ganzen Gegend. Treulich arbeitete sie und sorgte gut für die Mutter. Doch sobald irgendwo Musik war, mußte sie tanzen. Ihre Mutter grämte sich darob sehr. Doch wie sie auch drohte, selbst bat, davon abzulassen, es half nicht. Im Spätherbst und Winter, wenn die jungen Leute zum Spinnen zusammenkamen, spielten sie auch einige lustige Weisen auf dem Leierkasten. Dann ging Marie nicht eher heim, bis sie mit allen Burschen getanzt hatte.

An einem Marientage, als sie wieder zum Spinnen ging, versprach sie der Mutter, recht früh heimzukonnen. Nicht lange saßen die Mädchen am Rocken, da kamen die Dorfburschen mit Musik. Rasch wurden die Räder zur Seite gestellt, und alles tanzte und sprang. Marie gedachte ihres Versprechens und spann eifrig weiter.  Doch schließlich sprang sie mit einem Jauchzer hoch und tanzte mit einem Burschen in wildem Wirbel durch die Stube. Spät nach Mitternacht erst machte man sich auf den Heimweg. Am Kirchhof fanden sie das kleine Tor offen, schlüpften hindurch und tollten durch die Gräberreihen. Maries Mutter wartete bang. Vom Kirchhof her klang Musik und Lachen in ihr Stübchen. Da wußte sie, daß Marie ihr Versprechen gebrochen. Sie ging zum Kirchhof und sah die Tanzenden. Da fluchte sie ihr: „Ich wollte, das ungeratene Kind säße im Monde und müßte da oben spinnen!“

Kaum daß sie es sagte, flog Marie mit ihrem Spinnrade dem Monde zu. In Vollmondnächten sieht man, wie sie emsig das Rädchen dreht. Feine, zarte Fäden spinnt sie, die im Herbste zur Erde fallen. Der Wind spielt mit ihnen und legt sie auf Bäume und Hecken, Sommerseide und Marienfäden nennen die Leute sie.

 

Das Weisenmädchen im Mond
(aus: Die deutsche Volkssage, Hrg. Otto Henne am Rhyn)
Ein armes Weisenmädchen trat, um ihrem Bräutigam etwas Aussteuer zuzubringen, in einen Dienst. Hier ließ man ihr jedoch wenig Zeit, an der Aussteuer zu arbeiten, und so spann sie Nachts für sich im Mondenscheine, besonders in Samstagnächten, wo man nicht spinnen soll. Dabei machte sie das Fenster auf. Je freundlicher der Mond herein schien, desto reicher, aber auch desto bleicher ward sie, weshalb ihre Frau sie oft spottend „die Spinnerin im Monde“ schalt. Sie aber fühlte sich vom Monde immer mehr angezogen, und einmal, wo sie ermattet einschlief, träumte sie fühlbar, sie werde in den Mond getragen. Als sie erwachte, befand sie sich tatsächlich dort und ist die Spinnerin, die man darin mit der Spindel sieht. Der Rocken nimmt mit dem Mondwechsel ab und zu, aber immer bleibt noch Flachs dran. Sie darf mit dem Rocken nicht zu Ende kommen, denn ist einmal der Flachs alle, so geht die Welt unter.

 

 

Ludwig Richter, die nächtliche Spinnerin