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Um die blauen Augen
(Eine Erzählung von  W. Frischholz)

Wie im Hüttenberg - bei Gießen - früher der Flachs bereitet wurde.
Frühlingswehen schritt durch die große Bauernstube gerade in dem Augenblick, als es draußen lockte, und die Sonnenflimmerchen bildeten lichte Streifen vom Fenster zum Fußboden. Von den Hecken und aus den Hohlwegen drohten allerdings noch die Reste weißer Schneewehen.
Der Weberludwig bastelte im Hause herum. Eine große Unruhe war in seinen Gliedern, schon tagelang trieb es ihn. Frühlingsahnen lag über der Landschaft, und er war doch der Weberludwig. Ehe die Kühe eingespannt werden durften, mußte noch mancher Stoß Tuch geschlagen (gewebt) werden. Das war die Unruhe. Jetzt begann die Sitzzeit am Webstuhl; vorher mußte er noch einmal gründliche Umschau halten.
Vor dem Haus gingen seine Augen die Dorfstraße entlang, die schnurgerade war und den Blick bis zum Dorfausgang frei ließ. Herzerquickend war, was er sah. Aus jedem Dachfenster guckte der Garnrick (Stange, auf denen gewaschene Garnstränge zum Trocknen aufgehängt waren) hervor, nicht klein und bescheiden, nein, in seiner ganzen Länge; genau bis in die Straßenmitte reichte er. So schaute er heraus, Haus für Haus hüben und drüben, und auf jedem Rick hingen die Garnzahlen in langen Kränzen und wiegten sich im Winde.
So hatte das ganze Dorf dem Winterfleiß zu Ehren geflaggt.
Durch lange Winterabende hatten fleißige Frauenhände das Garn gesponnen; unzählige Male hatten sich Frauenköpfe auf die Hand gebeugt, um den gleitenden Faden mit den Lippen anzufeuchten; viel tausendmal, bis der Wächter die elfte Stunde rief. Dann, wie auf ein Kommando, wurde der Rocken glatt gestrichen, wurde das Rad in die Ecke gestellt. Wer länger spann, fand am nächsten Morgen seinen Rocken zu unentwirrbarer Masse zerzaust, unbrauchbar zu feinem Garn. Niemand hat je den Missetäter ertappt, aber die alte Annegrit behauptet steif und fest, es käme von den ganz kleinen Hunden des wilden Jägers, die sich für eine Nacht in den Flachs zu weichem Lager kuschelten.
So glich das Dorf einem Walde von Garn. Wer jetzt durch die Straßen ging, der konnte genau feststellen welche Frau abends ein Stündchen geschlafen hatte. Sachkundig waren alle im Dorfe; selbst die Buben johlten unter dem Rick, auf dem die Garnzahlen zu licht hingen.
So war es bei Hansjergs, nebenan, der Rick war noch nicht ausgesteckt; aus dem Haus wälzten sich eben ätzende, weiße Schwaden dichten Dampfes. Ludwig wußte, daß sie jetzt erst ihr Garn kochten, wie immer, so auch in diesem Jahr zuletzt im Dorf. Eins hatten sie damit gewonnen: sie brauchten zum Ausspülen des Garnes keine Eisdecke im Bache mehr durchzuhauen, und den alten Faulenzern wurden beim Waschen die Hände nicht mehr so steif, daß sie das Zufassen vergaßen. Aber dafür bekam ihr Garn auf dem Rick auch nicht mehr die scharfen Nachtfröste, die es haben muß, wenn es weich und weiß werden soll. Und im Mai konnte man die Schlamperei auch am Tuch auf der Bleiche erkennen. Wenig Ehre im Dorf! Dafür hatte die Frau auch keine Schrunnen oder gar Hornhaut am Ringfinger, über den der Faden auf die Spule laufen mußte. Alles hat sein' Sach, auch die Schrunnen an der Frauenhand.
Wenn in allen Siedekesseln das Garn in der beizenden Lauge aus Buchenholz kocht, wenn sich aus allen Häusern der ätzende Dampf wälzt, dann ist's Zeit. Heute noch wollte der Ludwig als erster im Dorf den Zettel (Kette) machen. Am Durchgang in seiner Stube war ein Brett mit kreisrundem Loch befestigt; das Zettelbrett war im Gegensatz zur weißen Decke blau gestrichen. Diesem Loch entsprach ein ebensolches im Fußboden. Der Zettelschrein (Schärrahmen), ein Ungestüm aus Latten mit Versteifungen, wurde mit seinem Drehbaum in beiden Löchern eingepflockt und hatte darinnen seine kreisende Bewegung beim Aufziehen des Garnes auszuführen. Dabei heißt es scharf aufpassen, sonst gibt's Dummheiten. Der Zettel ist ein glatt gehobeltes Brett, auf das mit Rötelstein die Touren aufgeschrieben werden, damit kein Irrtum entsteht. Danach ist das ganze kunstvolle Gebilde "der Zettel" benannt worden. Der Weberludwig ist Meister, er braucht kein Brett und keinen Rötel, er behält alles im Kopf. Wer im Dorf seiner Sache nicht ganz sicher ist, der holt den Ludwig zum Zettelmachen. Vor Jahren hat der Hannpeter an der Ecke seinen Zettel selbst machen wollen; er war doch im Gemeinderat. Aber trotz Brett und Rötel hat er ein buntes Gefädel an den Zettelschrein gedreht. Ludwig hat länger als einen Tag gebraucht, bis wieder alles in Ordnung war. Weben kann jeder im Dorf, wenn alles im Lot ist, aber das Zettelmachen hat nur der Ludwig im Griff; dafür ist er auch der Weberludwig.
Und noch etwas kann er mehr als die andern, nämlich so schöne bunte Muster einweben für Tischtücher und Borten an die Handtücher, die Sonntags über den Gebrauchstüchern zur Parade an der Stubentür hängen. Wer damit Staat machen wollte, der mußte bei ihm eintauschen, immer zwei Ellen für eine.

Nach ein paar Tagen klapperten die Webstühle, klipp, klapp durchs ganze Dorf, durch den ganzen Hüttenberg und hinauf bis in den Vogelsberg. Die Kinder drehten auf dem Spulrad das Garn auf kleine Rohrspülchen zum Einschlag. Sie taten es nicht gern, aber sie taten es doch. Zu schnell waren die Spülchen wieder leer: - links klipp, klapp - rechts klipp, klapp - sauste das Schiffchen durch den geöffneten Garngang vor der Weblade. Linkes Bein - klipp, klapp - rechtes Bein - klipp, klapp! 18 Ellen, 20 Ellen den Tag mußten sich auf den Tuchbaum drehen; die Kinder murrten, ihre Finger schmerzten und manchmal wiesen Daumen und Zeigefinger der linken Hand Spuren von Blut vom gleitenden Fadens auf.
Der Weberludwig webte auch für andere, immer 35 Pfennig für die Elle und Abends beim Abliefern einen Eierkuchen mit Speck. Blos für die Annekäth wob er nicht mehr. Ihr Garn, es war nicht zum Sagen, riß schon beim Zettelmachen, riß dann beim Aufziehen auf den Garnbaum, riß beim Andrehen, riß erst recht beim Weben, wenn sich die Fäden spannten und etwas aushalten mußten. Da half die Schlichte aus Weizenmehl nichts, selbst als ein Stick Leim dazu gekocht wurde, riß es wie Schafsleder. Da riß auch des Ludwigs Geduld. Nach manchem harten Wort schwor er einen heiligen Eid, für die Annekäth nicht mehr zu weben.

Ostern ist vorbei, gelbe Dotterblumen leuchten aus dem frischen Grün und Kettenblumen in Massen von den Bleichwiesen. Da ist der Paradeplatz für den Winterfleiß; weitaus sind sie schon bespannt mit Leinenstücken. Dreimal muß das Tuch in der Lauge aus Buchenholz gekocht und täglich wohl sechsmal mit dem Wasser aus dem Wiesenborn begossen werden, und sechsmal täglich leckt es die heiße Zunge der Sonne trocken. Auch in der Nacht bleibt es draußen. Da ist kein Dieb im Dorfe - nein so schlechte Menschen gibt es hier nicht. Tag für Tag dieselbe Arbeit, Tag für Tag durch drei oder vier Wochen. Weißer und weißer schimmert das Tuch wie frisch gefallener Schnee. Endlich liegt der Winterfleiß wohl geschichtet, Ballen auf Ballen, in der alten Truhe.

Noch vor Pfingsten geht der Ludwig, gehen alle Bauern am Sonntagnachmittag auf die Felder, um zu ergründen, welcher Acker in diesem Sommer Flachsfeld sein soll. Gut gedünkt, kleinfurchig geackert, zu Mehl vereggt und dann tief den Samen in die sommerliche Erde!
Wenn die Herbstnebel um die Zwetschenbäume wallen und den Früchten Farbe geben, geht die Annemarie mit vier oder fünf Freundinnen hinaus ins Flachsfeld. Die Sommersonne sog den blauen Blütensee auf, und bräunlich-grün schimmern nun Halm und Früchte. Rupp, zupp! klagt es unter den harten Frauenhänden. Kreuzweise werden die Bündelchen übereinander gelegt und in Busse (Garben) gebunden.
An Abend sammelt sich das junge Volk in der Reffscheuer. Am eisernen Reffkamm auf den scharfen Zinken werden die Knotten, die harten Samenkapseln, abgerauft. Lachen, Necken, Gesang begleiten die Arbeit bis zur zwölften Stunde. Die Knotten fallen auf den Haufen unter den Reffkamm und die "Bettelleut" - das am Kamm hängenbleibende Unkraut, Geäst und Wurzelwerk - werden ab und zu herausgezerrt; unbrauchbarer Abfall, zu nichts mehr nütze.
Ein schöner Altweibersommer spannt weiße Fäden durch den Hüttenberg. Hinter den Häusern liegen auf Knottentüchern die Knotten im Sonnenschein. Das knistert ohne Aufhören; die Knotten platzen und leeren die kleinen, braunen Samenkörner aus. Seit Wochen liegen die Flachsstengel auf der Spreite (zur Taurotte). Sonne, Regen und Reif im Wechsel zermürben die Stengel, so daß sich die Fasern lösen können.
Wenn die Feldarbeit verrichtet ist, kommt der Flachs unter die Breche. Harte Arbeit ist es, den Schwengel zu heben, mit Kraft niederzustoßen, daß die Stengel in kleinen Splittern niederrieseln. Diese, die Ane (Schäben) werden dem Verputz an Häusern als Bindemittel beigefügt. Nachbarlich hilft man sich gegenseitig; es ist Frauenarbeit und wird mit einem steifen Kaffee belohnt. Bald sitzt die Hausfrau allein am Schwingstock und läßt das breite Holzschwert mit Wucht an den Fasern niedersausen, bis sie völlig von Anen frei sind. Auf dem Heustall ruhen die Fasern dann gebündelt bis um Martini. Die Hotche - Fasern, die beim Schwingen abfallen, ergeben, kunstvoll geflochten, fast unzerreißbare Seile für allerlei Zwecke.
Wenn sich die Wintertage anmelden, dann beginnt die letzte Vorarbeit für das Spinnen. Die Hechel wird auf den "Schimmelstuhl" gebunden, und wenn die Kinder aus der Schule kommen, werden in ihnen allerlei Vorahnungen auf Winterfreuden geweckt. Die Mutter sitzt an der Hechel, flicht aus dem weichem langen Gefaser zarte Zöpfe wie Engelshaar und türmt hinter der Hechel einen Berg aus Werg auf. Aus diesem Werg wird das rauhe Garn gesponnen, das zu "wirkem Tuch" verwebt wird, gebraucht für die Wagentücher und die Obst- und Kartoffelsäcke.
Und schließlich beginnt wieder das Spinnen. Die Annemarie, Ludwigs Frau, spinnt das beste Garn im ganzen Dorf. Ihr Faden hat keine Klinkworfeln (dicke und schlecht gedrehte Stellen) und wenn ihr Garn gewebt wird, braucht man nicht halb so viel Schlicht wie sonst. Sie hat drei Buben großgezogen und auch zwei Mädchen, die sich schon am Spinnrad versuchten, als die Füße kaum an den Tritt reichten.
Das Jahr hat sich um seine Achse gedreht, mit all seinen Bedürfnissen, mit allen Pflichten und Lasten und Freuden um die blauen Augen draußen auf der Flur. Anfang und Ende berühren sich und das Gespinst aus heimischer Erde fügt sich ohne Naht zusammen.

 

 

Lehrtafel zum Thema Leinenweberei 19. Jahrhundert