1. Die Spinnstube ist eine Arbeitsstube, in der
auf dem eigenen Felde gezogener oder gekaufter Flachs
gesponnen wurde. Aber man spann hier nicht zuerst für
den eigenen Gebrauch. In früheren Jahren ist
Oberhessen, zumal der nördliche Teil, viel von
Garnhändlern besucht und bewohnt gewesen, welche in
den Dörfern und auf den Märkten das gesponnene Garn
aufkauften. Unsere damals weit ärmere Bevölkerung fand
in diesem Garnspinnen Verdienst; war's auch nicht
groß, es war doch etwas. Die alten Leute unserer
Dörfer erzählen noch oft und gern von der früheren
Armut, der kärglichen Lebensweise, dem wenigen
Hausgerät. War's auch nicht an allen Orten so schlimm
wie in Rebgesheim, Köddingen und Sichardshausen, wo
noch vor 50, 60 Jahren das halbe Dorf weit übers Land
hinein betteln ging, der Bettelleute waren überall
viele. Das Geld war äußerst knapp. Einer der größten
Bauern hat mit gesagt, in seiner Jugend seien nicht
viele Häuser gewesen, da man jederzeit 3 Batzen habe
finden können. Wenn da einmal in der Spinnstube eine
Festlichkeit gewesen sei, die Burschen einen Krug
Branntwein getrunken hätten, dann hätte jeder seine
liebe Not gehabt, die paar Kreuzer dafür zusammen zu
bekommen. Und viele Leute hätten im Dorf gelebt, die
jahraus, jahrein nur an den allerhöchsten Festtagen
ein Stück Fleisch auf den Tisch bekommen hätten, da
sie zum kaufen eines Ferkels und heranmästen eines
Schweins zu arm gewesen seien. Da griff, wer konnte,
zu, sich mit Spinnen Geld zu verdienen.
Dazu kam, daß der Bauer sich aus selbstgesponnenem
Garn kleidete. Das "schäfftig Zeug" und die
"Beiderwand" standen noch in Ehren. Die Mutter gab der
heiratenden Tochter und dem heiratenden Sohn
selbstgesponnenes Tuch oder Kloben Flachs mit. Die
Dienstboten bekamen einen Teil des Lohns in
selbstgewebtem Tuche oder sie erhielten auch ein Stück
Feld mit Flachs eingesät. Das waren die goldenen
Zeiten des Spinnrades. Die Spinnstube war zugleich
Fabrik- und Hauswerkstätte.
Aber sie waren noch mehr als das. Die Arbeit war doch
eine andre als in unsern Fabriken. Da saß kein
Meister, der den Arbeitenden fortwährend auf die
Finger sah, da war keiner, der das Schwätzen und
Singen verbot, da konnten sich diejenigen in
Spinnstuben zusammentun, die dem Alter nach
zusammengehörten. Wohl gab die Mutter dem Sohn oder
der Tochter, wie es im Vogelsberg hie und da heute
noch ist, einen bestimmten Teil Garn zu spinnen auf,
aber immer blieb noch Zeit für Vergnügungen, zu Spiel,
zu Scherz und auch wohl Tanz. Das schnurrende Spinnrad
störte die Unterhaltung und das Singen nicht. Von neun
Uhr ab - und das ist heute noch so - kommen die
Burschen in die Mädchenspinnstuben. Die Liebe der
jungen Leute konnte hin und her die Fäden spinnen. So
waren die Spinnstuben die Lust und Freude der Jugend.
Man versteht von hier aus auch, mit welch' ungeheurer
Kraft die Spinnstuben die einzelnen zu ihr gehörigen
zusammenhielt. Es bildete sich von selbst unter den
Gliedern eine Kameradschaft, wie sie sich der Mensch
nur wünschen mag. Oft erzählte ein Kamerad dem andern,
was er selbst den Geschwistern und Eltern vorenthielt.
Die Spinnstubenkameraden singen im Vogelsberg heute
noch dem "Bait" machenden das Hochzeitslied, sie
kaufen dem ehelich werdenden ein Hochzeitsgeschenk,
sie besuchen miteinander die Märkte und Kirmes in den
benachbarten Orten, sie lassen den kranken Kameraden
nicht allein, sie gehen nebeneinander zum hl.
Abendmahl, sie gaben früher den Hauptteil an der
Beerdigung, wenn einer von ihnen starb, indem sie
selbst ihm das Grab gruben und den Sarg trugen. Die
Spinnstube war und ist noch für sie die zweite Heimat.
2. Das Wort "Spinnstubb" hat im Munde unserer
Vogelsberger Bauern eine ganz bestimmte Bedeutung. Man
nennt so eine Gesellschaft von jungen Leuten einerlei
Geschlechts. Ich schreibe mit Vorbedacht: "einerlei
Geschlechts". Wir haben im oberen Vogelsberg heute
noch Mädchenspinnstuben und Burschenspinnstuben, aber
wir haben keine Spinnstuben, zu denen auch etwa die
Glieder einer Familie oder Burschen und Mädchen
zugleich gehören. Wenn, wie es von Abend neun Uhr an
wohl überall im Vogelsberg der Fall ist, Burschen und
Mädchen bei diesen Zusammenkünften vereinigt sind, so
sind die Burschen Gäste der Mädchenspinnstuben, sie
haben nicht in deren Leitung hineinzureden, sie bilden
sie nicht mit. Ebenso dürfen die Glieder der Familie,
die die Spinnstube aufnimmt, nicht zu ihr gezählt
werden. In der Umgebung von Gießen haben wir die
Burschenspinnstuben seit Jahren nicht mehr, aber es
gab sie früher. Alte Leute wissen sich wohl zu
erinnern, daß sogenannte "Spillestuben" existiert
haben und diese Spillestuben, in die sich gerade in
den letzten Jahren auch die Burschenspinnstuben des
Vogelsberges zu verwandeln angefangen haben, sind die
Reste dieser alten Spinnstuben.
Ich habe Notizen nach Burschenspinnstuben gesucht und
zwei Hinweise gefunden: Zum ersten eine
Kunkelstubenordnung des schwäbischen Dorfes
Sigertshofen von 1700 in der es heißt: "Die Buben
sollen in ihre Gungelstuben gehen und nicht zu den
Mägden, sondern ihnen ausweichen." Ferner lautet eine
Bemerkung des Pfarrers Gaissen zu Frau Thann, in
seiner Arche Noës von 1693: "Eine gar böse Gelegenheit
ist solche Gungelstuben, wo die jungen Burschen allein
zusammen kommet, unzüchtig redet, singet, springet,
scherzet, betastet, sich begeben." Auch dies eine
Beweis, wie mancher alte Brauch noch im Vogelsberge
lebendig ist.
Neben diesen Spinnstuben des ledigen Volkes bestanden
früher auch noch Spinnstuben verheirateter Männer. So
in Beuren, Atzenhain, Heinbach, Eichelhain. In diesem
letzeren Orte haben die Männer nicht nur in ihren
Spinnstuben gesponnen, sondern auch die Feste, die die
Spinnstuben des ledigen Volkes feierten, mit gefeiert,
als "lange Nacht", Scheidowet", Neujuhr".
3. Die Spinnstube dauert den Winter hindurch, etwa
von Ende November bis Pfingsten. Zu Großen-Linden
begann sie am Abend des 25. November, des Tages des
Butzbacher Katharinenmarktes, wie noch an manchen
Orten der Wetterau. Einige Tage vorher kamen die
Altersgenossen zusammen und beredeten den gemeinsamen
Gang zum Markte, auf dem die Leute aus dem Hüttenberge
damals hauptsächlich den Flachs verkauften.
In Engelrod beginnt sie, nachdem man mit der Arbeit
auf dem Felde aufgehört hat. Ihr ursprünglicher
Endtermin scheint Pfingsten zu sein. "Das Recht ist
bis Pfingste" hat einmal ein Mädchen in Engelrod
seiner Herrschaft gesagt, als diese es nach Ostern die
Spinnstube nicht mehr besuchen lassen wollten. Doch
kommt man in der Zeit zwischen Ostern und Pfingsten
nur noch an den Sonntagen zusammen. In König im
Odenwald dauern die Spinnstuben bis Fastnacht, ähnlich
in anderen Orten.
Die einzelnen Spinnstubenabende beginnen heute im
Vogelsberge etwa um sechs Uhr. Die jungen Leute suchen
die Spinnstube nach der "Noachtsupp" auf. Im Kreise
Lauterbach ist der Schluß der Spinnstuben auf abends
zehn Uhr angesetzt. Natürlich wird diese Anordnung
zuweilen übertreten, aber im allgemeinen hat sie sich
gut eingelebt. Gendarmen und Bürgermeister hielten
wenigstens in der Zeit, als ich in Engelrod wohnte,
streng darauf. In Beuern und anderen Dörfern des
Kreises Gießen hört die Spinnstube erst um elf Uhr
auf, eine Tatsache, die schon oft die Nachbarn der
Spinnstube und Freunde der Jugend veranlaßt hat, nach
einer gleichen Verordnung auszuschauen.
4. Sehen wir uns nach dem Orte um, an dem dieselbe
gehalten wird, so können wir im Vogelsberge von zwei
Arten der Spinnstube reden. Wir haben einmal die
Spinnstube mit einem festen Heim, d.h. sie tagt den
ganzen Winter über in einem und demselben Hause, und
dann die Wanderspinnstube, d.h. sie wechselt
wöchentlich ihren Aufenthalt; in dieser Woche kommt
sie bei den Eltern dieses Mädchens, in der nächsten
bei den Eltern jenes zusammen. Eine Spinnstube mit
festem Heim haben wir z.B. heute noch in Engelrod,
hatten wir früher auch in Schlechtenwegen und anderen
Orten. Die wöchentlich wechselnde Spinnstube findet
sich z.B. in Beuern und Dörfern der Nachbarschaft, wie
auch in solchen des Odenwaldes. Auch täglich
wechselnde war früher in Großen-Linden heimisch, und
so genau wurde hier die Reihenfolge eingehalten, daß
wenn die Spinnstube in diesem Jahr im Hause A.
angefangen hatte, sie im nächsten beim Hause C.
begann. Bei Trauerfällen findet sich gewöhnlich im
Kreise Alsfeld eine geringere Familie bereit, die
Spinnstube gegen Entgelt zu übernehmen.
In Engelrod und seiner nächsten Umgebung haben wir
also die Spinnstube mit festem Heim. An Sonntagabenden
im Spätherbst gehen die Mädchen oder Burschen aus,
eine Stube im Ort für ihre Spinnstube auszumachen. Der
Herr des Hauses, in dem die bittende Schar erhört
wird, wird "Spinnherr" , die Hausfrau "Spinnfrau"; das
Haus selbst ist das "Spinnhaus". Als Vergütung für die
Aufnahme bezahlen die Spinnkameraden das Petroleum,
das in der Stube allabendlich verbrannt wird. (Die
Gastfamilie hielt sich ebenfalls in Raum auf, brauchte
also kein eigenes Licht). Außerdem schenken sie der
Familie zu Weihnachten oder Neujahr eine Tischlampe,
eine Bettdecke u. dergl. Am Geburtstage des Hausherren
erfreut man diesen durch eine Pfeife oder Zigarren.
Ferner nimmt die Familie an den Feiern der Spinnstube
teil, ißt und trinkt mit. Der Spinnherr und mehr noch
die Spinnfrau sollen die Ordnung der Spinnstube
aufrecht halten. Es erschien mir eine große Sorge des
Pfarrers zu sein, hier die Augen aufzutun und vermöge
seines Einflusses bei den jungen Leuten, sie von
Häusern mit unpassenden Hauseltern abzuhalten. Es wird
aber den suchenden Mädchen und Burschen nicht immer
leicht, ein Haus zu finden - oft bleibt allerdings
eine Spinnstube auch viele Jahre lang in demselben
Hause - um so mehr, als im Kreise Lauterbach, der in
den Spinnstubenverfügungen musterhaft ist, laut
behördlicher Verfügung die Spinnstube nicht bei einer
alleinstehenden Witwe und nicht in einem Hause mit
schulpflichtigen Kindern gehalten werden darf.
Außerdem lieben viele Familien den Lärm, die Störung
der eigenen Behaglichkeit, die Beschmutzung von Stube
und Hausehren nicht.
5. Ich komme nun zu der Arbeit in der Spinnstube.
Das eigentliche Arbeitsgerät ist das Spinnrad, auch
kurzum "Rad genannt, das sich uns als eine kunstreiche
Vorrichtung darstellt. (Im Vogelsberg wird mit
"Bockrad", mit Doppelschnursystem, gesponnen, bei dem
das Rad etwas niedriger neben dem Spinnkopf sitzt. à
Technik: Spinnen von Wolle.)
Ein vertikal stehender Stock trägt den mit Flachs, den
"Rockel" so die Engelröder Bezeichnung, sonst auch
"Rocken" genannt, der oft mit eine bunten, auch
buntseidigen "Schnur" - einem Band - umwunden ist; ein
Geschenk von freundlicher Hand. Unten am Rockenstock
ist ein kleines Gefäß mit Wasser angebracht, das "Netztöpfche"
aus dem die Spinnerin von Zeit zu Zeit die Finger und
damit den Faden netzt.
Es ist eine Kunst, den Flachs um den Rocken richtig
herumzulegen. Man hat dafür das Sprichwort: "Der
Flachsrockel muß sein, daß er kracht und der
Wergrockel, daß er lacht." D.h. der Rocken des
Flachses soll fest, der Rocken des Werkes lose sein.
Die Mädchen spinnen in ihren Spinnstuben gewöhnlich
den Werg, die Burschen in ihren den Flachs. Ein
Mannskerl versteht es ganz selten, seinen Rockel
richtig mit Flachs zu umwinden. Darum wandten sich die
spinnenden Burschen gern an die "Weibsleut". Wehe aber
der Ungeschickten! Der Rockel wurde, wie sie ihn
hergestellt hatte, an die Stubentür mit Kreide
gezeichnet, und an Hohn und Spott fehlte es nicht.
Die Kunst der Spinnerin besteht darin, einen möglichst
gleichmäßigen und feinen Faden zu spinnen. Eine sehr
geschickte und fleißige Spinnerin, die von Morgens 4
Uhr ab bis spät Abends ununterbrochen spann, bracht,
beiläufig gesagt, in einem Tage ungefähr drei Haspel
(Strang) fertig, das ist drei mal 520 mal den Umfang
des Haspelrades. Doch war das eine Ausnahmeleistung.
In der Spinnstube gebrauchte man auch noch das andere,
zum Spinnrad gehörige Gerät, den Haspel. Es dient
dazu, das auf der Spule aufgelaufene Garn in einen
Strang zu binden. Eigentümlich ist, daß der in
Engelrod und Umgebung gebrauchte Haspel einen größeren
Radumfang hat als der Haspel, den man in Beuren,
Hungen oder Meiches gebrauchte. In Engelrod geben 26
Faden, d.h. 26 mal der Umfang des Haspelrades ein
Gebind, 10 Gebind "e Hall" = einen Halben; zwei Hall
einen "Zaspel", das ist ein Strang. In den anderen
Orten geben 60 Umwindungen ein "Geblätz" (der Name
kommt daher, daß nach 60 Umdrehungen der Haspel einen
"Blatz" tut) zehn Geblätz eine Zahl, d.h. ein Strang.
Beim Spinnen in der Spinnstube hat jedes Mädchen
seinen bestimmten Platz. In der "doppelten Eck" (da,
wo die Bänke zusammenstoßen) sitzt das "Spinnmädchen",
die Tochter des Hauses. An diese reihen sich rechts
und links dem Alter nach die anderen an. Der Platz des
"Spinnmädchens gilt als Ehrenplatz.
In der Spinnstube wird aber nicht nur gesponnen. Eine
Hauptunterhaltung der Mädchen während des Spinnens ist
das Singen. Die Mädchen singen die Lieder zweistimmig,
oder, wie der Bauer sagt "hell" und "grob". Singen die
Burschen mit, so übernehmen diese die zweite Stimme.
In jedem Winter hat man andre Lieder als
Lieblingslieder, da in jedem Winter neue bekannt
werden oder alte wieder zu Ehren kommen.
Neben dem Spinnen nimmt die gemütliche Unterhaltung
einen breiten Raum ein. Die Dorfneuigkeiten werden
erzählt und erörtert. Wenn der Pfarrer auf der Kanzel
oder sonstwo ein wenig sehr deutlich geworden ist,
wird das verarbeitet und "simmiliert", wer dem Pfarrer
dies oder das gesagt haben kann. Neckereien,
Spöttereien, Klatschereien werden laut - kurz, es wird
"schlächt geschwätzt".
Oft geht auch die Unterhaltung auf Geister und
Gespenstergeschichten und auf Dorfsagen über. Doch
auch die lustigen Anekdoten und Schnurren fehlen
nicht. Es hat mich ganz eigen berührt, als ich bei der
Sammlung solcher Spinnstubengeschichten auf einen
Stoff kam, den die Brüder Grimm in ihren deutschen
Hausmärchen gleichfalls haben.
Ein Hauptspaß der Mädchen, so lange sie unter sich
sind, ist das "uff de Laust' gehen". Eine jede
Spinnstube der Mädchen hat mit der gleichaltrigen
Spinnstube der Burschen vorzugsweisen Verkehr.
Zwischen diesen beiden Spinnstuben wird nun viel
Neckerei getrieben. Man versucht unbemerkt an die
Fenster der anderen Spinnstube heranzuschleichen und
wirft nun mit einem Male eine Handvoll Erbsen gegen
die Scheiben. Der Lärm, den das macht, und der
Schrecken, den die Insassen bekommen! Oder es wird
"Pfeffer gerieben", d.h. am Eckpfosten des Hauses wird
draußen mit einem Holze, das über die Schindeln hin
und her bewegt wird, ein lautes, kreischendes Geräusch
hervorgebracht, mit dem gleichen Erfolge und anderes
mehr.
Die Burschenspinnstuben sind die Orte, in welchen die
Spottgedichte verfaßt werden, die ja in allen Dörfern
nicht selten sind. Weibliche Poeten kennt der
Vogelsberg kaum. Diese Spottgedichte, die auf gewissen
Personen oder Vorfälle gemacht werden, werden in der
Nacht heimlich an die Backhaustür oder sonst an einem
Platz angeschlagen, an dem viele vorbeigehen, und
finden immer am folgenden Tag einen dankbaren
Leserkreis. Zuweilen sind sie voll guten Witzes und
Humor.
An jedem Spinnstubenabend um neun Uhr, Sonntags um
sieben Uhr, gehen die Burschen aus ihrer Spinnstube in
die der Mädchen, zu der sie sich halten. Wer früher
kam, wurde "Hännerslochskriecher" genannt. Die
Burschen beanspruchen, wenn sie älter waren, den Platz
auf der Ofenbank; so lange sie jünger sind, suchen sie
sich in die Reihe der Mädchen hineinzubringen.
Die Burschen sehen den Mädchen zu und fangen
Neckereien an. Sie hängen den "Knecht" (Trittbrett) am
Spinnrad ab, daß sie nicht mehr spinnen können, um die
Mädchen zu veranlassen, sich mit einem Kusse zu lösen.
Oder sie hängen demselben den Rocken ab. Sie schütteln
auch wohl den Mädchen die Schürze, daß die "Ane", das
unbrauchbare am Flachs, zu Boden fallen, und
beanspruchen für diesen Liebesdienst gleichfalls einen
Kuß. Setzt sich ein Bursch neben ein Mädchen, das ihn
nicht mag, so sagt es auch wohl, wenn es den nötigen
Mut hat: |
6. Es bleibt mir noch übrig, die Feste und die
bedeutungsvollen Tage der Spinnstube zu schildern. Da
sie meistens mit einem Tanze schließen, so sei mir
gestattet, einige Worte über das Tanzen in den
Spinnstuben zu vorauszuschicken.
Die Reigen werden meistens bei den Klängen einer
Ziehharmonika, selten einer Geige getanzt. Die
Ziehharmonika ist noch nicht lange im Vogelsberg
eingebürgert. Die alten Leute erzählen, wie früher die
Burschen die Musik durch Pfeifen auf einem mit Papier
umwickelten Kamme selbst hergestellt, oder auch die am
Tanze Unbeteiligten die Melodie gesungen hätten.
Weiterhin ist zu beachten, daß in engen Stuben getanzt
wird. Oft zwanzig und mehr sind da vereinigt. Für alle
reichen die Bänke und die wenigen Stühle gar nicht
aus. In den Zwischenpausen des Tanzes setzen sich oft
zwei, drei oder vier aufeinander, immer der eine auf
des anderen Knie, ein für die "Führnehmen" gar
seltsamer Anblick. Man male sich einmal dies Bild der
Spinnstube aus, vergesse nicht den Dampf der Zigarre
(niedrigster Qualität) die sich die Burschen in den
Zwischenpausen des Tanzes leisteten, das Gesinge, die
Krische die mitunter laut werden, die drückende Luft -
es ist für die Städter nichts weniger als ein schönes
Bild, dieser Blick in einen Tanzsaal des Landes.
Die erste Feier der Spinnstube ist der "Eenzog",
das "Iweihe". Im Odenwald sagt man: sie wird "ohgesoffe".
Die Mädchen kochen Kaffee, die Burschen holen sich
einen Krug Branntwein oder Bier. Wenn die Burschen die
Mädchen besuchen, bezahlen sie ihnen einen Weck, die
auf dem Lande eine Leckerei darstellen. Früher wurde
immer getanzt, heute nur noch selten und nur bis zehn
Uhr. Will eine Spinnstube über zehn Uhr hinaus tanzen,
so bedarf es eines "Tanzzettels" den sie sich zu
beschaffen hat.
Die "lang Nacht", oder, wie man in Hopfmannsfeld
und Schlechtenwegen sagt, der "erste Scheidewet", ist
der zweite bedeutsame Tag der Spinnstube. Es war in
Engelrod stets die Nacht vom 23. auf 24. Dezember. In
den Spinnstuben wurde früher an diesem Abend besonders
lang gesponnen. Die Dienstboten konnten nach alter
Sitte von zehn Uhr ab für sich selbst spinnen. Am
Abend der langen Nacht kommen in die Spinnstuben
Frauen, die "Kichelche" verkaufen. Die Burschen nehmen
sich davon für die Mädchen.
Es beginnt nach der langen Nacht die Zeit der
altheiligen Zwölfnächte um Neujahr, in welchen in
alten Zeiten die ganze Arbeit, vor allem auch das
Spinnrad stillstand, die "Heltag", die "Nittutag" wie
die Bauern im oberen Vogelsberg diese Zeit bezeichnen,
die "Laustag" (Lostage) wie man in Beuern sagt. In
Engelrod oder auch in Schlechtenwegen meidet man heute
noch bis Neujahr alles spinnen; das Rad ist auf die
Kammer der Oberstub' gebracht.
Am Abend des zweiten Christtages feiert man "Scheidowet!
(Scheideabend) und zwar Burschen und Mädchen in den
Spinnstuben der letzteren. Für das Essen, Wurst und
Brot, zum Schluß Kaffee und dazu Kuchen, sorgen die
Mädchen, die Burschen haben die Getränke zu stellen,
früher Brandwein, heute Bier. Alles in Allem: eine
Tanznacht der Spinnstuben. Am Nachmittage des
nächstfolgenden Tages begleiten die jeweiligen
Spinnstuben-Gemeinschaften den in einen neuen Dienst
tretenden Kameraden zu seiner neuen Herrschaft. Gesang
verkürzt den Weg. Überall hört man am Nachmittag des
"Scherztages" singen, auf den Wegen und Chausseen, die
von einem Dorf zum anderen ziehen, bald von einer
Schar Mädchen, bald von einer Schar Burschen.
Das nächste größere Fest findet am "Naujuhrschowet",
dem Silvesterabend statt. Da ladet die Spinnstube der
Burschen die Mädchenspinnstube, mit der sie Verkehr
hat, zu sich ein. Am Silvesterabend nach dem
Gottesdienst versammeln sich die Mädchen in ihrer
Spinnstube und warten, bis die Burschen sie holen. Es
ist kein Anstand, wenn ein Mädchen von selbst hingeht.
Die Burschen kommen und holen ihre Gäste. Das erste,
was ihnen vorgesetzt wird, ist zuckergebrannter
Branntwein. Dann beginnt der Tanz, den kurz vor zwölf
eine Eßpause, in der die Burschen die Mädchen bedienen
und Wurst und Brot darreichen, unterbricht. Um zwölf
Uhr beginnen die Glocken zu läuten. Alles geht vor die
Haustür und singt: "Hilf Jesus, laß es gelingen".
Am Epiphaniastage wählten die Spinnstuben in
Schlechtenwegen einen König und eine Königin, auch in
Engelrod und anderen Pfarreien kennt man diesen alten
Brauch.
Das letzte große Fest der Spinnstube ist die
"Fasert" oder Fastnacht, die im Vogelsberg allgemein
nur am Fastnachtsdienstag gefeiert wird. Die Mädchen
backen am Nachmittag in den Spinnstuben Kreppel, mit
welchen sie die am Abend kommenden Burschen bewirten.
Am Abend wird flott getanzt.
Nach Fastnacht kommt die Zeit des "Strickgehens". Die
Mädchen besuchen ihre Freundschaft in den benachbarten
Dörfern. Oft sieht jetzt die Spinnstube fremde Gäste.
Der letzte bedeutsame Tag im Jahresverlauf ist dann
noch der zweite Ostertag. Man sagt: an diesem Tage
wird "das Licht versoffe". Die Mädchen trinken Kaffee,
die Burschen einen Krug Branntwein. |