Seitenindex Neues Impressum

Geschichte vom Flachs
Volkssitten im Herzogtum Nassau, um 1800

Der Flachs und dessen Bereitung in der Umgegend von Rennerod
(mitgeteilt vom Seminaristen Lehnhäuser aus Rennerod)

Es gibt wohl kein Erzeugnis des Bodens auf dem Westerwalde, dessen Bebauung und Bearbeitung so in allen Jahres- und Tageszeiten vorgenommen würde, als der Flachs. Vom Anbruche des neuen Jahres bis zum Verschwinden desselben in das Meer der Vergangenheit, vom ersten Morgenstrahl bis zum freundlichen Herniederblicken des Abendsternes, ja im Winter bis 10 - 11 Uhr nachts, ist man mit der Bereitung des Flachses beschäftigt, und die Freude dabei ist größer, als mancher denken wird.

Am Lichtmeßmorgen (2. Februar) sieht der Landmann nach dem Himmelslauf, und wie freut es ihn, wenn die Königin des Tages klar und freundlich herniederschaut. Denn eingedenk dem Sprichwort: "Lichtmeß hell und klar, gibt ein gutes Flachsjahr" hofft er, daß der Herr ihm eine gute Flachsernte geben werde.

"Wenn das Buchenlaub kommt zum Schein, dann säet der Bauer den Lein."

An einem warmen Abend, wenn die schwüle Luft und die blutrot untergehende Sonne baldigen Regen prophezeit, dann gehen Vater und Kinder aufs Feld. Doch nicht ein jeder Abend ist dem Landmann zum Aussäen seines Leines erwünscht. Denn, wie die Hausfrauen gern die Gartensämereien am Gründonnerstag säet, wie der Landmann die Erbsen gern auf Georgitag säet, so hat die Volkssitte für die Aussaat des Leines bestimmte Tage festgesetzt. Die hierauf Bezug habende Bauernregel heißt:
"Wer am 10. oder 23. April seinen Leinsamen säet, bekommt große Hemden."

Der Acker, welcher das Jahr zuvor Trieschland, Wieswachs oder ein Kleeacker war, ist schon einige Tage vorher mit Sorgfalt geackert und tüchtig geeggt worden. Hier ist wieder ein altherkömmliches, volkstümliches Sprichwort, das ihn dazu antreibt. Es heißt:
"Wenn der Lein ist gesäet und wird dann sein geeggt,
Und gibt dann wenig Regen, das gibt dem Flachs den Segen"
Der Vater streut nun den Samen mit großer Vorsicht aus, damit ja kein Korn verloren gehe. Während dieser Zeit lesen die Kinder Steinchen, Wurzeln, Rasen und Unkraut weg, die dem Pflänzchen später hinderlich sein würden. Nach vollendeter Aussaat gehen die Arbeiter dem dampfenden Herde zu, nachdem sie vorher noch einen flehenden Blick und vielleicht auch ein klein Gebetchen zum Himmel gesendet haben.

Bald aber zeigen sich auch Unkraut in der jungen Saat, und wenn dieselbe ungefähr 2 - 3 Zoll hoch ist, wird das Unkraut heraus gejätet. Die Magd und die Tochter des Hauses erfüllen dieses Geschäft mit Freuden.
Ist der Flachs nun von allem Unkraut befreit, und haben der warme Südwind und laue West eine Zeit lang recht wohltuend auf ihn gewirkt, so steht er bald voll in der Blüte. Ein schöneres Schauspiel kann es in der Natur nicht geben, als wenn der hohe Flachs mit den schönen blauen Äuglein zwischen den Korn- und Gerstenfeldern hervorblickt.

Wenn der Flachs die schönen Blüten verloren hat und man vermuten kann, daß er nicht mehr größer wird, dann ist wohl keine Mutter so saumselig, daß sie nicht vor ihre Türe die Proben ihres Flachses aufhängte, und ich wette: Sonntags drauf weiß jedermann, wer den schönsten Flachs im Dorfe hat.

Endlich ist auch die Zeit gekommen, daß der Flachs die nötige Reife hat, um ausgerupft zu werden. Dieses ist besonders das Geschäft der Knaben und Mädchen. Jede Handvoll wird besonders gebunden und 10 solcher Handvoll jedesmal zu einem Häuschen zusammengestellt.
Nach ungefähr drei Tagen werden die Häuschen umgewendet, damit auch die innere Handvoll trocknet. Ist alles trocken, so wird der Flachs nach Hause gebracht und noch, womöglich am selben Tag, gerefft. Die Nachbarsmädchen und Burschen sind zu dieser Arbeit schon Mittags eingeladen, und nach dem Essen wird angefangen. Unter lustigen Liedern und Gesprächen verstreicht die Zeit, und tanzend und hüpfend suchen sich die abgestreiften Knotten bei den Füßen der Reffer ein Plätzchen.

Nun ist das nächste Geschäft, den Flachs auf das Brechen vorzubereiten, d.h. in dahin zu bringen, daß er eine gewisse Sprödigkeit und weiße Farbe erlange, oder, wie man zu sagen pflegt, daß er zeitig werde. Zu diesem Zwecke hat man ein zweifaches Verfahren, nämlich die Tau- und Wasserröste.
Soll der Flachs durch die Tauröste zeitig gemacht werden, so geschieht es auf folgende Weise: Man legt den Flachs an einem sumpfigen Ort ganz dünn auseinander, läßt ihn daselbst 14 Tage oder drei Wochen liegen, je nachdem die Witterung mehr oder weniger günstig ist.
Will man die Wasserröste anwenden, so legt man den Flachs acht Tage lang ins Wasser und eben solange auf
auf die Wiese, wo er dann ebenfalls zeitig wird.
Hat er eine solche Sprödigkeit erlangt, daß sich der Bast vom eigentlichen Kern trennt, sobald man den Stengel reibt, so wird er gelichtet und Tags nachher nach Hause gebracht.
Nun werden die nötigen Anstalten zur Brecherei gemacht. Der Dreschplatz ist aber außerhalb des Dorfes beim nahen Wäldchen, und oft sieht man zehn bis fünfzehn solcher Plätze im Kreis oder in einer Reihe. Der eine geht an den bestimmten Platz und macht ein Zeichen, damit sich kein anderer daselbst niederlasse. Der andere trägt Brechbänkelchen und sonstige Bedürfnisse herbei. In der Küche werden Kartoffeln geschält und gerieben, damit ja die Kuchen auf den Brechtag nicht fehlen. In der ganzen Nachbarschaft sind schon die Mädchen und Burschen eingeladen, welche sich an dem bestimmten Tage beteiligen sollen.

Des folgenden Tages gegen acht bis neun Uhr bewegt sich der ganze Zug zur Brechhütte. Eine alte Frau, die Dörrin genannt, steht schon bei demselben, hat mit tränenden Augen ein Feuer angemacht, schon die ganze Brechhürde mit Flachs bedeckt, welcher beinahe ganz dürr ist und sieht mit zornigen Blicken dem Dorf zu, ob noch keine Hilfe kommt.
Doch jetzt sind sie alle da. Auch die übrigen Brechplätze werden nach und nach besetzt. Indessen hat die Alte schon nach den rauchenden Schornsteinen und der Mittagssuppe gesehen.
Endlich kommt eine Person ganz langsam, fast keuchend unter der schweren Last des Mittagsmahles, aus dem Dorf gegangen. Die Alte hat sie nicht übersehen. Schnell müssen zwei Mädchen der Person zueilen, ihr die Last abnehmen und zur Hütte bringen. Auch die übrigen Gesellschaften haben das Essen bekommen, und nun beginnt das allgemeine Mittagsmahl, bei dem der Hirsebrei gewiß nicht fehlt.
Nach dem Essen wird eine kleine Pause gemacht, und dann geht es wieder wacker an die Arbeit. Der gedörrte Flachs wird von den Burschen erst auf der Knätsche (eine sehr große Breche) zerquetscht und hierauf von den Mädchen auf den gewöhnlichen Brechbänkchen gebrecht. Hierbei löst sich das Äußere des Stengels von dem eigentlichen Flachse und fällt als Schewe, welche man auch Ahnen nennt, unter die Brechbank.
Doch, was sehe ich! Die ganze Dörre mit Flachs brennt lichterloh! Aus Unvorsichtigkeit der Dörrin ist ein Stengel Flachs in die Glut gefallen und hat das Ganze entzündet. Alles eilt herbei und das Feuer ist schnell gelöscht. Die Dörrin wird zur Strafe tüchtig ausgelacht.
Der Flachs wird teils nach Kloben, teils nach Dreißig gezählt. Jeder Kloben besteht aus zwei Gebündchen, deren jedes 40 Handvoll zählt. Dreißig Handvoll bilden ein Dreißig.
In der Regel wird der Flachs noch am Tage der Brecherei geschwungen. Jede Handvoll wird erst rauh geschwungen, was man rauschen nennt, wobei die beim Brechen verschont gebliebenen Ahnen und sonstiger Dreck ec. entfernt werden. Dann wird er so sauber als möglich gemacht. Dieses geschieht in der Regel von den Mägden in regnerischen Herbsttagen. Die schlechtesten Teile des Flachses fallen beim Schwingen unter den Schwingstock und heißen Hodche.
Ist der Flachs nun von den Mägden tüchtig durchgepeitscht und ordentlich sauber gemacht, dann kommt er unter die Hechel der Hausfrau.
Jede Handvoll wird zweimal gehächelt. Das erstemal fällt der schlechteste Teil als Abkratz entweder ganz weg, oder wird blos zu sehr rauhen Zeugen, zu Säcken ec. verwendet.
Beim zweiten Hecheln wird der Kern vom Werg unterschieden. Man halbiert jede Handvoll, und dann wird gehechelt. Der schlechteste Teil fällt herunter und heißt Werg, der bessere Teil bleibt in den Händen der Hausfrau und heißt Kern. Jeder dieser Teile wird, wenn er die Hälfte einer Handvoll von dem Kern ist, Gespleß genannt. Zwölf solcher Gespleß werden recht künstlich zu Knauen zusammengefügt, und jedes Kind sucht eine Ehre darin, dem Herrn Pfarrer den schönsten Knauen zu bringen.
Hat man sechs Handvoll gehechelt, daß man also zwölf Gespleß oder einen Knauen hat, so ist auch soviel Werg ausgeschieden, daß es einen Rocken gibt, den das kunstliebende Mädchen mit roter Schnur und Bändern recht nett und zierlich ausstaffiert.

Wenn nun der Segen Gottes all eingesammelt ist, wenn der rauhe Nord sausend über die leeren Stoppelfelder streift und man sich recht behaglich beim warmen Ofen fühlt, dann sucht man allenthalben auch die Spinnrädchen wieder hervor. Bejahrte Frauen machen sich schon früh an die Arbeit, weil sie nicht mehr so rüstig schaffen können, aber doch gern dem Sprichwort entsprechen möchten, das heißt:
"Et es ka Frau si faul und krank, se hot de Mertestag ihren Strank."
(Es ist keine Frau so faul und krank. Sie hat am Martinstag ihren Strang)
Junge Mädchen kommen selten vor Martini ans Spinnen, weil sie anderer Arbeiten wegen noch verhindert waren. Dann aber lassen sie sich nicht mehr abhalten, eingedenk des Sprichwortes:
"Sankt Martin, Feuer im Kamin. Dann o Mädche, greif zum Rädche."
Traulich sitzen sie Abends bald in diesem, bald in jenem Hause im fröhlichen Kreis und drehen den Faden gar zierlich und fein. Doch plötzlich, da bricht das feine Gespinst und schnell, ehe die Spinnerin sich's versieht, hat ihr ein Verehrer den Rocken versteckt. Jetzt kann sie nicht spinnen, jetzt muß sie wohl flehn:
"O gib mir doch wieder den Rocken fein, ich will auch künftig recht achtsam sein."
Lautes Gelächter erschallt nun in der Runde, und die Betreffende wird rot vor Scham; dann geht es aber wieder lustig zur Arbeit, indem sie sich wechselseitig zur Aufmunterung den Spruch zurufen:
"Ist der Spinner fleißig und mag, spinnt er einen Strang den Tag."
(Anm. des Verfassers: Es spinnen hier im Westerwald nur die Mädchen und Frauen, doch hört man nie das Wort "Spinnerin". - Jeder Rocken liefert einen Strang.)
Und jede Spinnerin sucht eine Ehre darin, die zweite Spule voll und somit seinen Rocken abgesponnen zu haben. Oft kommt es vor, daß die eine oder die andere Spinnerin nicht immer an das soeben genannte Sprichwort denkt und auch nicht an das Folgende:
"Wenn Hande geht, muß Fude gehen."
(Wenn die Hand geht, muß auch der Fuß gehen.)
sondern verlegen am Rocken zupft und - schläft. Da hat man nun ein probates Mittel, die Schläferin zu wecken. Man steckt nämlich ganz unvermerkt den Rocken an. Sobald derselbe brennt, wird die Schlafende von der hellen Flamme, der ungewöhnlichen Hitze und dem lauten Gelächter der übrigen geweckt. Das Feuer ist bald wieder unterdrückt, und die Gefoppte schläft den ganzen Winter nicht mehr.

Unter solchen Späßen, unter lustigen Gesprächen und trauten Liedern verschwinden die Stunden recht angenehm. Aber alles geht sittlich und ehrsam her und:
"Mit Glockenschlag zehn, dann nimmt nun trotz Schnee,
trotz Winden und Wehn, ein jedes Ade."

Ist nun die Zeit gekommen, wo es heißt:
"Lichtmeß - bei Tag es, Spinner den Rocken vergeß."
Dann ist in der Regel alles gesponnen. Nun wird das Garn in Aschenlauge tüchtig abgekocht, dem Froste ausgesetzt, getrocknet und jetzt probiert der Leinweber seine Kunst. Es wird nun nach Qualität des Garnes rauhes Tuch, Werktuch oder flächsenes Tuch gemacht.
Wenn aber die Schlüsselblümchen blühen, und der Kuckuck aus dem Wald ruft, dann ist das Tuch gewoben. Dann springen die Kinder zum Vater und bitten sich aus, das Tuch zu bleichen. Auch holen sie sich schöne Bücher und lesen in der Zwischenzeit lehrreiche und unterhaltsame Geschichtchen.
Nun ist das Tuch weiß. Fritzchen und Hannchen erhalten nun gleich ihren Lohn, Fritzchen ein Kittelchen, Hannchen ein Röckchen. So froh und glücklich wie sie, ist nun niemand.
Jetzt kommt die Reihe auch an die Erwachsenen; auch sie erhalten ihren Lohn fürs Säen, Jäten, Reffen, Brechen und Spinnen. Das Tuch wird blau gefärbt, und nun erhalten Kleider die Mädchen und Burschen, Vater und Mutter. Und ein Bursche glaubt sich auf der Kirmes am schönsten gekleidet, wenn der blaue Kittel vorn mit zwei Reihen weißer Knöpfe besetzt und die beiden Achseln mit schwarzer Seide recht zierlich verbrämt sind. Denn er ist stolz auf das Sprichwort:
"Selbst gesponnen, selbst gemacht, ist die beste Bauerntracht."

Ein großer Teil des Tuches oder besser der Leinwand wird zu Hemden, Bettüchern, Handtüchern ec. verwendet. Das übrige wird zum Krämer gebracht, welcher bedeutenden Handel damit treibt.